Es schmeckt: Molekularküche im Altersheim |
Mit Hilfe von rein pflanzlichen Gelier- und Bindemitteln sowie Emulgatoren „zersetzte“ er beispielsweise Fleisch oder Gemüse in besonders feine Pürees oder eine rote Beete in Konfektwürfel, ohne jedoch den Geschmack der Speisen zu verändern. Serviert wurden die molekularen Häppchen häufig in Gläsern oder geschmackvoll auf großen Tellern wie Desserts. Inzwischen ist dieser Küchenstil weltweit in vielen Restaurants anzutreffen, während Cateringfirmen die Zubereitung oft als Show-Cooking auf Veranstaltungen inszenieren.
Was Feinschmecker begeistert, funktioniert aber auch in einem ganzen anderen Rahmen – in Pflege- und Altenhilfe-Einrichtungen. Das Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg hat dazu letztes Jahr gemeinsam mit kompetenten Partnern ein bundesweit einzigartiges Pilotprojekt gestartet. Im Altenburgheim in Bad Cannstatt, in der Eduard-Mörike-Seniorenwohnanlage in Stuttgart-Süd, im Ludwigstift Stuttgart-West und im Haus Heckengäu in Heimsheim werden seitdem Gerichte der Avantgarde-Küche serviert – parallel zu den klassisch zubereiteten Speisen.
Ziel ist es, dass schrittweise auch in den anderen Einrichtungen des Wohlfahrtswerk diese Wahlmöglichkeit beim Mittagstisch angeboten wird. Denn die Reaktionen der Bewohner auf „OptiMahl“ – so der offiizelle Titel für die Avantgarde-Küche im Wohlfahrtswerk – fallen in den Test-Einrichtungen überaus positiv aus, wie Maurice Wiegel berichtet. Er ist der Projektleiter und hat erste Ergebnisse im Rahmen einer Bachelorarbeit zusammengetragen (siehe Auswertung Textende).
Rindsroulade mit Karottengemüse und Kartoffelpüree |
Sein Fazit: „Personen, die wegen Kaustörungen bislang nur geschluckt haben, fangen wieder an zu kauen und aktivieren ihren Kaufreflex. Personen, die aufgrund von Problemen beim Essen bislang nicht im Speisesaal aßen, kommen zurück aus ihrer sozialen Isolation. Und alle haben wieder mehr Lust auf Genuß.“ Besonders beeindruckt hat ihn der Fall einer Bewohnerin des Altenburgheims in Bad Cannstatt: Sie wurde bislang per Magensonde ernährt, dank der Avantgarde-Küche kann sie jetzt wieder an der normalen Ernährung teilnehmen.
Was ist das Besondere bei der Zubereitung in der modernen Küche? Speisen werden püriert, dann aber mit sogenannten Texturas (in Pulverform) verrührt. Die Konsistenz der Mahlzeit verändert sich dadurch – es entstehen heiße oder kalte Gelees, Pürees oder Schäume. Alles ist weich bis flüssig, der Nähr- und Brennwert bleibt erhalten, auch der natürliche Geschmack. Also bestens geeignet für Menschen mit Kau- und Schluckstörungen, ohne Zähne und selbst für Patienten mit Wachkomasyndrom.
„Ein Stück Fleisch kann wieder mit dem Messer abgeschnitten werden, das Kartoffelpüree auf die Gabel geschoben werden“, erklärt Jürgen Mann, Gesellschafter von HamppTexturas aus Stuttgart. Er vertreibt die Zutaten von Ferran Adrià exklusiv in Deutschland und war neben Oliver Hoffmann von Culinaris Catering (Küchenmanagement in Wohlfahrtswerk-Einrichtungen), den beiden Köchen Peter Stadtmüller (Altenburgheim) und Kurt Gollnik (Eduard-Mörike-Seniorenwohnanlage) sowie Projektleiter Maurice Wiegel an der Einführung der Avantgarde-Küche im Wohlfahrtswerk beteiligt. Ein weiterer positiver Aspekt für ältere Menschen ist das sinnliche Erleben von Geschmack, Duft und Optik der sehr appetitlich angerichteten Portionen auf dem Teller.
Großes Engagement aller Beteiligten
Eine besondere Herausforderung in den Einrichtungen war es, neben dem normalen Alltag und der konventionellen Speiseplanung „OptiMahl“ vorzubereiten und in den laufenden Betrieb zu integrieren. Aus diesem Grunde war Koch und Avantgarde-Experte Giuseppe Messina zweimal in Stuttgart und weihte die Küchenleiter der Einrichtungen in die Finessen der modernen Küche ein. Schon im Frühjahr 2011 begannen die Vorbereitungen und bis in den Sommer hinein wurde im wahrsten Sinne des Wortes experimentiert. Denn die Texturas müssen je nach eingesetzten Lebensmitteln auf das Milligramm genau abgemessen werden, sonst zerläuft das Ergebnis oder bleibt zu hart.
Kurt Gollnik beim Zubereiten |
Mehr Qualität und Wahlmöglichkeit – ohne Mehrkosten
Dass mit der Einführung der modernen Küche das Verpflegungsangebot in den Einrichtungen qualitätsvoller und attraktiver geworden ist, zeigte sich schon nach den ersten paar Wochen. Für die Häuser bildet es jetzt auch einen zusätzlichen Pluspunkt für die Profilierung und das Image. Neuen Bewohnern und ihren Angehörigen können die Leiter dennoch versichern, dass sie für die Avantgarde-Küche nicht mehr bezahlen müssen.
Dafür garantiert Oliver Hoffmann von Culinaris Catering: „Vom Personalaufwand in der ersten Phase und einigen überschaubaren Anfangsinvestitionen wie Silikonförmchen oder Digitalwaagen abgesehen, bleiben alle Kosten gleich.“ Umso eindrucksvoller ist diese Tatsache, wenn man an die zur Verfügung stehenden Budgets denkt.
Derzeit ist es hierzulande so, dass pro Tag und Pflegeheimbewohner nur knapp vier Euro für fünf Mahlzeiten und Getränke von den Pflegekassen finanziert werden. Ingrid Hastedt, die Vorstandsvorsitzende des Wohlfahrtswerks, bezeichnet es daher als „echte Herausforderung, trotz dieser Rahmenbedingungen Qualitätsverbesserungen umzusetzen.“ Inzwischen ist die Erfolgsmeldung aus Stuttgart auch bei Ferran Adrià angekommen. Der Mitbegründer der Avantgarde-Küche ist „sehr gerührt, dass unsere Art zu kochen ihren Weg in die Küchen von Pflegeheimen gefunden hat“.
Wie kommt die Avantgarde-Küche bei den Beteiligten an? Erste Ergebnisse einer Umfrage im Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg (Stand Juni 2012):
Der OptiMahl-Projektleiter Maurice Wiegel hat 56 Kollegen aus der Pflege und Betreuung zur Einführung der Avantgarde-Küche befragt – dies geschah im Rahmen seiner Bachelorarbeit im Studienbereich Gesundheits- und Pflegemanagement an der Ev. Hochschule Nürnberg. Hier die wichtigsten Ergebnisse:
• Mehrwert bei der Nahrungsaufnahme. Bewohner können zwischen konventionellen und Avantgarde-Speisen wählen. Menschen, die bislang nicht im Speisesaal waren, kommen wieder, weil sie die Avantgarde-Gerichte jetzt selbständig essen können. Man spricht über die neue Präsentation der Speisen.
• Breite Einsatzgebiete. Nicht nur bei Schluckstörungen helfen die pürierten Speisen – auch bei Kauproblemen, Parkinson, Demenz oder Depressionen sind sie eine ideale Darreichungsform.
• Optische Schönheit. Das Essen, auch die Schäume oder Gelees, werden als appetitlich und ansprechend betrachtet. Die Freude am Essen bleibt erhalten bzw. wird gesteigert. Auch weil der eigentliche Geschmack sich nicht verändert.
• Mehr Appetit. Das Essen wird durch die neue Form einfacher angereicht. Es wird auch nicht wie bislang zusammengerührt, sondern als jeweilige Komponente (z. B. Fleisch, Nudeln) serviert. In Summe wird mehr gegessen, die Avantgarde-Küche steigert den Appetit der Bewohner.
November 2012. Frank Bantle/Redaktion pflegeinfos.net
Copyright Fotos: PR/Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg, Frank Bauer
Leicht und auch mit Kaubeschwerden genießbar: Multivitamingelee |
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