Wie werden Pflegeeinrichtungen der wachsenden Zahl an demenzkranken Bewohnern gerecht? Das Lußhardtheim und das Kraichgauheim – beides Einrichtungen des Wohlfahrtswerks für Baden-Württemberg – haben sich an einem Pilotprojekt beteiligt. Inzwischen ist das „Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen (H.I.L.DE)“ fester Bestandteil im Alltag der zwei Einrichtungen. Wir waren vor Ort und sprachen mit den Mitarbeitern:
Der Blick zurück kann Zukunft schaffen. Das gilt auch für den Umgang mit demenzkranken Bewohnern einer Pflegeeinrichtung. Nur wer die persönliche Biographie jedes Einzelnen kennt, seine emotionale Befindlichkeit und sein subjektives Erleben einst und heute, hat die Chance, eine optimale „Wohlfühl-Atmosphäre“ für ihn zu schaffen. Helen Lange, Einrichtungsleiterin des Lußhardtheims in Waghäusel, nennt Beispiele aus dem Alltag der 48 Bewohner: „Es gibt Menschen, die meiden bestimmte Räume im Haus. Es gibt Frauen, die haben vor männlichen Mitarbeitern Angst, weil sie früher vom Ehemann misshandelt wurden. Und es gibt schwer Demenzkranke, die ihr tagelanges Schweigen brechen, wenn sie etwa eine alte Kaffeemühle in die Hand nehmen.“
Bei der individuellen Beurteilung der dementen Bewohner und den daraus folgenden Maßnahmen zur Steigerung des Wohlbefindens nutzt das Lußhardtheim ebenso wie das benachbarte Kraichgauheim (Bad Schönborn) seit 2003 das neue „Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen“, kurz H.I.L.DE. genannt. Beide Einrichtungen des Wohlfahrtswerks haben sich an dem Forschungsprojekt des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg beteiligt – und wenden es auch nach Abschluss im Jahr 2009 mit großem Erfolg an.
Persönliche Lebensqualität von dementiell Erkrankten verbessern
Als Diagnostiktool gliedert sich H.I.L.DE. in acht messbare Bereiche: räumliche Umwelt, soziale Umwelt, Betreuungsqualität, Verhaltenskompetenz, medizinisch-funktionaler Statuts, kognitiver Status, subjektives Erleben und emotionale Befindlichkeit. Gerade die letzteren beiden Bewertungspunkte liefern den Betreuern wertvolle Informationen.
Helene Lange: „Schon mit einfachen Korrekturen im Heimalltag lassen sich für einzelne Bewohner Verbesserungen erzielen“. Als Beispiele nennt sie eine hellere Beleuchtung im Haus, eine geschlechterspezifische Personalplanung bei einzelnen Bewohnern oder vermehrte Besuche im „Erinnerungszimmer“ des Lußhardtheims, wo eine Biographiearbeit stattfindet. Mit H.I.L.DE. lassen sich selbst bei schwer demenzkranken Personen persönliche Vorlieben und Abneigungen feststellen.
Dazu schreibt die Berner Gerontologin Prof. Dr. Stefanie Becker in einem Fachaufsatz: „Die Beschreibung von Lebensqualität in einem individuellen Profil über alle erfassten Lebensbereiche hat den entscheidenden Vorteil, dass die Lebensqualität differenziert wird“.
Pflegepersonal vor Ort führt die Bewertung selbständig durch
Wie wird bei H.I.L.DE. erfasst? Wie viel Aufwand ist erforderlich? Für jeden Bewohner wird zunächst ein Erfassungsheft erstellt – darin werden sehr akribisch Details aller acht Messbereiche festgehalten: zum Beispiel wie häufig eine Bewohnerin Kontakt zu „positiv bedeutsamen Bezugspersonen“ hat, ob sich ein Bewohner an bestimmten Plätzen öfters am Tag aufhält und ob bzw. wo er Schmerzen hat. Dokumentiert werden darüber hinaus auch objektive Umweltmerkmale, etwa die Lichtstärke im Bewohnerzimmer oder die farbliche Gestaltung der Wohnbereiche. Die addierten Ergebnisse aus dem Erfassungsheft gelangen in Referenzbögen. Davon gibt es vier Varianten (Kompetenzgruppen), für leicht Demenzkranke bis zu schweren Fällen mit psychopathologischer Auffälligkeit.
Mitarbeiter im Pflegeheim fühlen sich eingebunden und bestätigt
Anhand dieser umfangreichen und stets individuellen Erhebungen können die Pflege-Einrichtungen dann ihre Maßnahmen auf einzelne Personen oder Gruppen abstimmen. H.I.L.DE. wird in aller Regel einmal pro Jahr durchgeführt, bei Erstanwendungen rechnet man mit 1,5 Stunden Zeitaufwand pro Bewohner. Experten raten aber dazu, bei Fortschreiten der Erkrankung ein Aktualisierung alle vier bis sechs Monate zu organisieren, um zeitnah Veränderungen in der Persönlichkeit des Bewohners zu erfassen oder ihn in eine andere Kompetenzgruppe einzustufen.
„Was uns an H.I.L.DE. besonders begeistert, ist die Messung und Erfassung durch unser Personal“, sagt Helen Lange. In der Tat setzt das Instrument auf die Expertise der Pflegenden vor Ort. Sie beobachten die Bewohner, führen Interviews mit ihnen und Angehörigen und lassen medizinische Daten sowie die Fakten aus der Pflegedokumentation miteinfließen. Abschließend erfolgt eine Besprechung in der Gruppe, ehe die Referenzbögen verabschiedet werden. Das sorgt im Innenverhältnis auch für mehr Anerkennung und Motivation der Mitarbeiter.
H.I.L.DE. entspricht dem Memorandum des Wohlfahrtswerks
Helen Lange ist davon überzeugt, dass H.I.L.DE. in Zukunft in vielen weiteren Einrichtungen in Deutschland und anderswo zum Einsatz kommt. Denn im Vergleich zum älteren Dementia Care Mapping (DCM) werden hier alle Lebensbereiche des einzelnen Bewohners erfasst und das Know-how das Personal gefragt. DCM setzt dagegen auf die Beobachtung durch externe Experten und widmet sich ausschließlich den öffentlichen Bereichen einer Einrichtung.
Und noch ein Vorteil erwähnen die Mitarbeiter im Lußhardtheim und Kraigauheim, wenn sie von H.I.L.DE. berichten – es spiegelt für sie eine Kernthese des Qualitätsmemorandums des Wohlfahrtswerks wider, wo es heißt, „entscheidend für das Wohlbefinden ist nicht wie Dritte Lebensqualität beurteilen oder messen, sondern das subjektive Erleben des Bewohners“.
Wohngruppenkonzept ist optimal in der Demenzbetreuung
H.I.L.DE. kann seine positive Wirkung für Menschen mit Demenz aber nur entfalten, wenn das Pflegekonzept konsequent auf die dementen Bewohner ausgerichtet ist. Im Lußhardtheim sieht man sich dafür gut aufgestellt – über Wohngruppen werden die 48 Bewohner vom Pflegepersonal und vier Betreuungsassistenten im Rahmen einer geregelten Ganztagesbetreuung versorgt.
Sinnesgarten im Lußhartheim
Stolz ist man in der Einrichtung auf die Kreativwerkstatt im ersten Stock – Demenzkranke fertigen hier Gemälde, Collagen oder Schablonenbilder und erhalten sich so manuelle und kreative Fähigkeiten. Seit 2012 bietet das Lußhardtheim noch mehr Lebensqualität für jeden einzelnen Bewohner und die Gruppen – hinter dem Haus wurde ein kleiner Sinnesgarten angelegt, der dank einer Außensicherung jederzeit betreten werden kann. Die ersten dementen Bewohner, so heißt es in Waghäusel, hätten sich schon ihre Lieblingsplätze erobert. www.wohlfahrtswerk.de
August 2013. Frank Bantle/Redaktion pflegeinfos.net
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